DAS GUTE MÄDCHEN

von Petra Vujovic

Das klassische gute Mädchen hört Stimmen in ihrem Kopf – selbst, wenn sie keine offizielle Diagnose hat. Jedes Mal, wenn sie vor einer Wahl oder einem Dilemma steht, raten ihre lauten Untermieter ihr zu anständigem Benehmen, denn für ein gutes Mädchen ist nichts wichtiger als ihr guter Ruf.

Geflüchtete Gedanken zittern in der Kälte, die Stimme fremder Vernunft schreit in ihrem Inneren, beschämte Worte wandern von Mund zu Mund, schüchterne Blicke huschen an den eigenen Augen vorbei und das gute Mädchen gewährt ihnen allen seit frühester Kindheit Unterschlupf in der Zuflucht ihres Unterbewusstseins.

Mit den Jahren haben sich da ziemlich viele Stimmen angesammelt – Stimmen, die niemandem mehr gehören und nirgendwo mehr hinkönnen. Sie wissen genau, dass ihr furchteinflößendes Echo nur noch über den grünen Weiden des Unterbewusstseins des guten Mädchens hallt. Frustriert und wütend schreien, kreischen und übertönen sie einander, zerstören unaufhörlich die natürliche Idylle und den Frieden einer unberührten Landschaft. Verwoben in ein ohrenbetäubendes Dröhnen, das einem Klagelied stark ähnelt, und für immer getrennt von jenen, denen sie einst – wer weiß wann und warum – aus der Kehle entwischt sind, herrschen sie ewig über die Weiten des Geistes des guten Mädchens. Kein Wunder also, dass sie, wenn man ihr sagt, dass im Leben nichts wichtiger sei als der eigenen “inneren Stimme” zu folgen, verwirrt fragt: “Welche genau?” Eine schreckliche und schwere Lage für jedes brave Mädchen, denn unter all diesen kreischenden, dominanten Stimmen, die unaufhörlich Ratschläge und moralische Lektionen erteilen, erklingt manchmal auch die schwache Stimme einer verschlafenen Intuition.

Das gute Mädchen lässt sich leicht verwirren und hört dann auf die falsche “innere” Stimme. Was werden die Leute sagen… Sei nicht egoistisch… Du solltest… Du darfst nicht… Übertreib nicht… Beiß die Zähne zusammen… Das wäre nicht schön…

Sie ist wie ein Vogel mit Flügeln, der nie lernt zu fliegen, weil wohlmeinende Menschen ihr sagen, dass Fliegen überschätzt wird – und Sicherheit das höchste Gut ist. Irgendwann vergisst das gute Mädchen, wozu ihre Flügel da sind, und trägt sie nur noch als Zierde.

Sie ist höflich, immer, egal unter welchen Umständen. Sie respektiert die Älteren, kennt die Regeln und weiß genau, wo ihr Platz ist – und wann sie ihren Stolz hinunterschlucken oder die Erwartungen anderer erfüllen muss.

Das größte Problem des guten Mädchens ist jedoch, dass auch sie eine Intuition hat. Und Intuition ist eine heikle Sache, denn so sehr Gesellschaft oder Individuen versuchen, sie zu unterdrücken – sie findet immer einen Weg. Die Intuition ist ein Problem für ein braves Mädchen, auch weil sie ihr oft Dinge nahelegt, gegen die sich alle anderen Stimmen in ihrem Kopf entschieden wehren. Und ein gutes Mädchen will niemanden verletzen – am wenigsten die weisen Stimmen, denen sie, ohne es zu wissen, längst ihre eigene authentische Stimme ausgeliefert hat.

Sie ist politisch äußerst korrekt und von Natur aus ausgesprochen demokratisch, sodass sie alle Stimmen in ihrem Kopf gleichermaßen respektiert und wertschätzt. Das gute Mädchen versteht nicht, dass politische Korrektheit oft nur eine bloße Täuschung ist. Doch indem sie hartnäckig ihre Intuition ignoriert, verliert sie nach und nach Stück für Stück von sich selbst – und ein Leben ohne sich selbst ist eine sehr traurige Existenz, der sich jedes gute Mädchen tief bewusst sein sollte.

Ein gutes Mädchen wird daher niemals gut genug sein. Außer vielleicht, wenn sie ein schlechtes Mädchen wird. Heilige Mutter Mutation, voll der Gnade.

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