von Petra Vujovic

Ich kehre nach einem kräftezehrenden Arbeitstag in der Schule heim. Eine kurze Verschnaufpause gönne ich mir nicht, dafür fehlt schlichtweg die Zeit. Ich trinke Kaffee in der Hoffnung, dass sein tiefschwarzes Elixier die erschreckende Erschöpfung vertreibt und mir hilft, die nächsten 90 Minuten – die Dauer des Privatunterrichts – die Augen offen zu halten. Während ich den mittlerweile lauwarmen Kaffee schlürfe, plane ich den Rest des Tages: Nachhilfe, Abendessen, Hausaufgaben kontrollieren, mit ihm für den morgigen Test üben, ihr beim Referat helfen, einen neuen Blogbeitrag veröffentlichen, die Küche aufräumen, mich fertig machen für den Ausgang.
Oft frage ich mich, woher ich diese unerschöpfliche Energie nehme, und das Einzige, was mir einfällt, ist die Tschernobyl-Katastrophe – eine andere Erklärung gibt es nicht. Ich bin zweifellos mutiert. Im Gegensatz zu den Nicht-Mutierten bin ich erstaunlich resistent gegen alle Arten von Müdigkeit und ertrage sie alle mit Bravour. Ich erlebe es eher als kurzzeitigen Energieverlust oder, sagen wir, als eine kurze Unterbrechung, die mich vielleicht verlangsamt, aber nie zum Stillstand bringt. Außerdem verhält sich mein Organismus aufgrund der Mutation, die höchstwahrscheinlich noch aus dem Jahr 1986 stammt, wie ein Perpetuum Mobile (lat. sich ewig Bewegendes), das keine externe Energiequelle benötigt. Täglich entdecke ich neue Vorteile dieser strahlungsbedingten Mutation! Die Nicht-Mutierten beispielsweise essen dreimal täglich, schlafen sogar bis zu 6-7 Stunden, achten auf ihre Ernährung, gehen joggen und dergleichen. Als Mutantin brauche ich das alles zum Glück nicht. Kurzum: Ich bin unzerstörbar.
Im Großen und Ganzen überlebe ich irgendwie diese 90 Minuten Unterricht, die ich einem Schüler aus dem Grätzel gebe, und decke schon den Tisch fürs Abendessen. Ich habe etwa eine halbe Stunde Zeit zum Essen und noch einmal so viel, um den eigenen Kindern bei den Deutsch-Hausübungen zu helfen. Mit ihnen habe ich komischerweise viel wenir Geduld als mit fremden Kindern. Ich weiß nicht genau warum, vermutlich liegt’s an meinen Muttergenen.
Jedenfalls ist es mein Ziel, dass die beiden möglichst bald selbstständig werden und sich endlich um ihre Schullaufbahn kümmern, denn diese ehrenamtliche Arbeit – ganz ehrlich – erfüllt mich nicht mehr wie früher. Stattdessen würde ich lieber faulenzen und das Leben genießen, oder wenigstens ein gescheites Fernsehprogramm schauen. So unterrichte ich tagein, tagaus nur Deutsch.
Ich setze sie also beide an den Küchentisch, was ich normalerweise vermeide, weil sie sich nur streiten, wenn sie beisammen sind. Aber heute muss ich noch zu dieser Performance in die Stadt, also vereinfache ich die Sache. Eines sitzt links, das andere rechts. Ich sitze in der Mitte, am Kopfende. Sie glauben, dass ich immer genau dort sitze, weil, ich zitiere, “die Mama denkt, sie wäre die Wichtigste, wie eine Königin”, aber in Wahrheit ist es nicht nur deswegen, sondern auch, weil ich von dieser Position aus einen guten Überblick über die Situation habe und sie besser zurechtweisen kann, wenn ich sie zu Recht kritisiere. Kinder können manchmal wirklich herzlos sein.
Wie üblich quengeln sie herum und erschweren absichtlich die Hausübung, in der Hoffnung, dass ich die Aufgaben selbst löse. Was für Trottel! Anscheinend verstehen sie immer noch nicht, dass ich sie lieber ohne Hausübung in die Schule schicken würde, als diese für sie zu machen.
Ich beobachte sie noch eine Weile, aber dann verliere ich wirklich die Geduld. Ich korrigiere noch einmal ihre gescheiterten Versuche der Selbstständigkeit und dann, geschlagen von ihrem jämmerlichen Wissen und ihrer noch jämmerlicheren Einstellung, schimpfe ich mütterlich-wohlwollend – mal auf das eine, mal auf das andere Kind, das mir gerade untergekommen ist. Ich hebe die Stimme, ziehe drohend die Augenbrauen zusammen, funkle sie zornig an, gestikuliere wild mit den Händen, alles ohne den gewünschten Effekt. Weder sind sie besonders erschrocken, noch übermäßig besorgt. Eine Professorin, die ihre eigenen Kinder anschreit!
Während ich darauf warte, dass sie – bar jeder Inspiration und maßlos überfordert von ihrer sprachlichen Expertise – endlich den angefangenen Satz zu Ende bringen, schlürfe ich noch einen Schluck vom schwarzen Kaffee und überlege mir, wie ich den heutigen Post auf Instagram gestalten soll.
Tja, auf Instagram genieße ich einen gewissen Status, habe Follower, Gleichgesinnte, vielleicht sogar einen heimlichen Verehrer, aber hier zu Hause schaut die Sache ganz anders aus. Hier bewundert mich keiner offen, hier gibt es keine heimlichen Fans, hier teilt niemand meine Ansichten. So eine Frechheit! Wenn ich sie beinahe zärtlich und mit professorenhaft-mütterlichem Verständnis taktvoll korrigiere, werden sie grantig und zappeln unzufrieden auf ihren Plätzen herum.
Etwa fünf Minuten bevor ich aufbrechen muss, trete ich in die Schlussphase meiner Tschernobyl-Energie-Rhapsodie ein. Das sind jene fünf Minuten am Tag, in denen ich, die Superfrau, ein biblisches Wunder vollbringe. Ich stelle die Kaffeeschale in die Geschirrspülmaschine, die ich üblicherweise mit dem linken Fuß öffne und schließe. Das ist übrigens auch das Bein, mit dem ich morgens normalerweise aufstehe. Vor dem Weggehen schalte ich immer die Spülmaschine ein, ein Glück. Da nicht alles schmutzige Geschirr in die Maschine passt, überprüfe ich, was am ärgsten stinkt, spüle es kurz ab und staple es geschickt aufeinander, damit es bis morgen, wenn die Putzrunde dran ist, möglichst wenig Platz wegnimmt. Gleichzeitig, während mir die letzte Hoffnung an den eingecremten Händen stirbt, diktiere ich ihm noch einen Blitz-Test. Eines Tages werden sie das zu schätzen wissen, da bin ich mir sicher.
Dann hetze ich ins Badezimmer und betrachte mich im Spiegel. Instinktiv greife ich nach der Zahnpasta und der Bürste. Während ich mit einer Hand die Zähne putze, krame ich mit der anderen nach dem Schminkzeug im Schränkchen, stelle aber schnell fest, dass ich ohnehin schon recht passabel aussehe und keine grundlegende Renovierung brauche. Das Make-up habe ich erst vor etwa 10 Stunden aufgetragen, vor dem Aufbruch in die Arbeit. Fürs komplette Selbstbewusstsein und einen jugendlichen Schick trage ich trotzdem noch etwas Rouge auf. Um die Frisur mache ich mir keine großen Sorgen, denn: a) es regnet und es wäre völlig unangebracht, ja geradezu geschmacklos, bei diesem Wetter mit einer tadellosen Frisur aufzutauchen. So würde ich nur unnötig die Aufmerksamkeit der anderen, weniger glücklichen Frauen auf mich ziehen, b) meine Haare sind vielleicht nicht ganz frisch gewaschen, aber unter dem breiten, geflochtenen Retro-Haarband wird das niemand bemerken. Außerdem betont das Haarband wunderbar meine strahlenden, himmelsblauen Augen und den knallroten Lippenstift, c) ich fahre mit dem Lift, was mir zumindest noch zusätzliche 45 Sekunden Zeit für die Platzierung des Haarbands und eine Überprüfung des Gesamteindrucks verschafft. Die kleine Meerjungfrau kämmte sich mit einer Gabel, und niemand hat sie deswegen verurteilt. Nur so nebenbei bemerkt.
Er hat den Test schon wieder völlig falsch gelöst, sie versteht die Aufgabe immer noch nicht, und ich schaue auf die Uhr. Macht nichts, denke ich mir, das Leben ist die beste Schule, sie werden schon lernen, dass sie schneller und geschickter sein müssen, wenn sie Erfolg haben wollen.
Vor dem Aufbruch, während ich meine Stiefel anziehe, schimpfe ich noch ein bisschen mit ihnen und werfe die üblichen Floskeln in den Raum: “Andere würden zahlen, um bei mir Deutsch zu lernen! Und ja, ihr schuldet mir 50 Euro für heute! Eure Mutter ist Deutschprofessorin, Autorin von 12 Lehrbüchern, Mentorin, und ihr kennt noch immer nicht den Unterschied zwischen Dativ und Akkusativ! Ich schmeiß euch aus der Schule, jawohl! Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie ich ruhig schlafen kann, wenn ich weiß, dass ihr rein gar nichts wisst…”
Beim Hinausgehen umarme und küsse ich sie trotzdem, weil sie, trotz allem, irgendwie süß und wunderbar sind, auch wenn ich mir wünschte, sie wären nebenbei noch fleißiger, aber sei’s drum. Ich sage ihnen, sie sollen sich fürs Bett fertig machen, schließe die Tür hinter mir und eile mit einem Buch in der Hand zur U-Bahn-Station. Wahrscheinlich komme ich ein paar Minuten zu spät, aber ich reg mich nicht auf, denn ich bin ja immerhin Mutter von zwei Kindern, berufstätig und verheiratet, da wird man schon Verständnis haben, dessen bin ich mir sicher.
Die U-Bahn ist verspätet. Das regt mich trotzdem kein bisschen auf. Stattdessen nehme ich mein Buch heraus und lese. Als sie endlich kommt, steige ich elegant ein, setze mich und überprüfe mein Handy, bevor ich noch einen Blick auf mein schickes Spiegelbild im Fenster werfe. Natürlich sehe ich hervorragend aus. Die Haare sind vom Haarband gebändigt, die Frisur sitzt, das Make-up ist dezent, aber absolut damenhaft. Das sehe ich zwar wegen der schlechten Lichtspiegelung nicht ganz deutlich, aber ich nehme es einfach mal an. Ich trage ein kurzes Kleid von vorvoriger Saison und schwarze transparente Strumpfhosen, damit der Fokus auf meine langen Beine fällt. Ich zeige lieber Beine als Kleider, so ist das eben.
Selbstbewusst und selbstzufrieden schlage ich mein Buch auf und spüre, wie der Stress langsam von mir abfällt. Je weiter weg ich von zu Hause bin, desto leichter atme ich. Irgendwo bei der Station Kettenbrückengasse vergesse ich komplett, dass ich überhaupt einen Mann und Kinder habe, und öffne Google Maps, um den Club zu finden, in dem heute Abend die Performance stattfindet.
Während ich nach der Adresse suche, denke ich wieder an seinen Deutschtest von morgen. Wortarten und Satzglieder, Verwaltungssprache, Beistrichregeln und Präteritum. Herrlich! Ich schließe Google Maps und rufe ihn über Viber an. Er meldet sich sofort, spielt also wieder sein Lieblingsspiel. Ohne Erklärung mache ich mit den Aufgaben weiter. Er hört zu und antwortet wie aus der Pistole geschossen: “Quotierungszeichen nach oben, Mama, Beistrich, ich hab Hunger, Rufzeichen, Quotierungszeichen nach oben, Beistrich, sagt Peter.”
Perfekt, Punkt. Diesmal weiß er alles, Mutters Musterschüler! Ich wünsche ihm eine gute Nacht und gestehe ein, dass ich mich verirrt habe, nicht nur im übertragenen, sondern auch im wörtlichen Sinne. Ich öffne wieder Google Maps und gehe den gleichen Weg zurück, finde aber die Adresse immer noch nicht. Das ergibt keinen Sinn, denke ich mir. Ich schalte Google Maps aus und vertraue meiner Intuition. Meine Intuition ähnelt allmählich meinem Verstand: Sie ist brillant. Einen Moment später finde ich den Club und gehe hinein. Ich bin ein wenig zu spät, aber das macht nichts, ich bin da. Ich setze mich hin und überlasse mich der Kunst.